Wie lange dauert eine Übersetzung?

von | 17. Aug 2018

Die Dauer einer Übersetzung ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen zwischen Endkunden und / oder Agenturen einerseits und Übersetzern andererseits sowie von Übersetzern untereinander.

Klar ist, dass sich diese Frage pauschal nicht beantworten lässt – je nach Art und Schwierigkeitsgrad des Textes, nach dem Umfang der erforderlichen Recherche (oh ja, wir Übersetzer recherchieren auch, und zwar nicht nur „Wörter“, sprich „Fachbegriffe“, sondern auch und vor allen Dingen Zusammenhänge, allgemeinen Sprachgebrauch, Zielpublikum, Homepage und Sprachgebrauch des Auftraggebers – unsere Arbeit lässt sich, scherzhaft gesprochen, mit Detektiv-, Forschungs- und Ermittlungsarbeit vergleichen) kann die Übersetzung auch nur einer Seite eine halbe Stunde in Anspruch nehmen – oder auch das Doppelte bis Dreifache… Es versteht sich von selbst, dass die Arbeit damit noch nicht beendet ist.

Nach der Rohübersetzung folgt die Qualitätskontrolle – die sich selbstverständlich nicht allein auf die automatische Rechtschreibprüfung beschränkt (z. B. die, die in der Software „Word“ integriert ist), sondern bedeutet, dass der Übersetzer jeden Ausgangssatz noch einmal kritisch mit jedem Satz des übersetzten Zieltextes vergleicht:

Dabei wird die Übersetzung auf Vollständigkeit und sachliche Richtigkeit überprüft. Auch der Stil muss stimmen, und der hängt u. a. von der Verwendung des Textes ab (Pressemitteilung, Mitarbeiterinformation, Gerichtsurteil, Rechtshilfeersuchen, usw.). Ist ein Glossar zu beachten? Welchen Stil verwendet der Auftraggeber selbst? Soll die Übersetzung „verkaufen“ (Broschüre eines Werbetextes) oder informieren (technische Beschreibung, Handbuch)? Muss die Übersetzung „lokalisiert“, also auf die landestypischen Besonderheiten der Zielsprache angepasst werden? In Deutschland z. B. gibt es für PkWs keine Autobahnmaud, es gibt keine Wohnsteuer, dafür aber gibt es in Frankreich keine Hundesteuer und in Großbritannien ist das gesamte Gesundheitssystem kostenlos – in den USA wiederum aber nicht, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ideal ist es, wenn zwischen der Übersetzung und deren Überprüfung etwas Zeit vergeht, damit der Übersetzer Abstand zu seiner eigenen Arbeit gewinnt. Ein Spaziergang oder sogar eine „überschlafene Nacht“ sind hier die Wunschvorstellung jedes Übersetzers, allerdings ist das nicht immer möglich. Gerade gerichtliche Vorladungen, Klagen (insbesondere im einstweiligen Verfügungsverfahren), internationale Fahndungen, usw. dulden in den meisten Fällen keinen Aufschub. Es gilt also, sein eigenes Werk möglichst umgehend so selbstkritisch wie möglich zu überprüfen.

Auch hier wäre es ideal, von vornherein einen 2. Kollegen zu Rate zu ziehen. Das verursacht aber nicht nur weitere Kosten, sondern nimmt u. U. auch erhebliche Zeit in Anspruch. Der mit der Korrektur beauftragte Kollege ist nämlich genauso selbständig / freiberuflich tätig wie der mit der eigentlichen Übersetzung beschäftigte Übersetzer. Will heißen: Er hat auch noch andere „Baustellen“ und kann die Korrektur womöglich nicht stehenden Fußes übernehmen…

Für Übersetzungen in die französische Sprache arbeiten mein Mann und ich zusammen – er kann meine eigenen Übersetzungen immer sofort Korrektur lesen und mit mir besprechen, das organisieren wir unter uns.

In Übersetzerkreisen heißt es im Allgemeinen, dass man – als Faustregel – an einem normalen Arbeitstag ca. 2.400 – 2.500 Wörter (also ca. 8 Normseiten) verarbeiten und liefern kann, ohne befürchten zu müssen, in der Hektik des Alltags wichtige Dinge übersehen zu haben (z. B. eine Verneinung…).

Diese Weisheit scheint sich aber in Fachkreisen noch nicht überall herumgesprochen zu haben… So erhalte ich heute, an einem Freitag gegen 16.30 Uhr eine Anfrage von einer Agentur (von der ich einfach erwarte, dass sie die Sachlage kennt): 14.000 Wörter eines „sehr technischen“ Textes (nach ihren eigenen Worten; es handelt sich tatsächlich um einen gerichtlichen Sachverständigenbericht) – für nächsten Dienstag. Zu Arbeitsbeginn um 9.00 Uhr, versteht sich…

Dem Endkunden sehe ich es nach, dass er keinerlei Vorstellung davon hat, welchen Zeitaufwand diese Arbeit bedeuten würde. Er hat einen Bedarf und denkt nicht über die Situation des Übersetzers nach.

Also, seien wir tapfer und legen wir einige Überstunden ein: Nach Abzug des Freitagabends (denn welcher Übersetzer ist sofort verfügbar und hat nicht bereits andere Aufträge zu bearbeiten?) verbleiben der gesamte Samstag, Sonntag und Montag, also 3 Tage für ca. 14.000 Wörter (wenn die Agentur richtig gerechnet hat; auch hier habe ich schon erhebliche Überraschungen in die eine oder die andere Richtung erlebt…), das macht 4.667 Wörter pro Tag. Das sind 15,5 Normseiten pro Tag – übersetzen, Korrektur lesen und die Korrekturen eingeben, und zwar unter Beachtung des Layouts – der Aufteilung der jeweiligen Seiten.

Juristische und technische Texte sind mein Fachgebiet, darin habe ich die meiste Erfahrung und bin deshalb relativ schnell. Dennoch würde ein derartiger Umfang einen Arbeitsaufwand von ca. 10 – 12 Stunden bedeuten, und zwar pro Tag. (Dass ich gerade in Urlaub bin, weiß der Kunde = die Agentur nicht und das ist auch nicht sein Problem.)

Sein Problem ist allerdings Folgendes: Ich soll einen Eilauftrag teilweise über das Wochenende erledigen. Und irgendein Eil- / Wochenendzuschlag wurde mir nicht angeboten. Jeder Handwerker berechnet mit vollem Recht derartige Zuschläge – ein Übersetzer jedoch, der wie in meinem Fall sein Fach nicht nur studiert sondern auch in langen Jahren der beruflichen Praxis (nicht nur als Übersetzer, sondern auch in Kundenbetrieben) und der ständigen beruflichen Fortbildung sein Fachwissen ständig auf dem Laufenden hält und erweitert, soll ganz selbstverständlich eine qualitativ hochwertige Arbeit (die vor Gericht Verwendung findet) über das Wochenende, teilweise in Nachtarbeit und „eilig“ abliefern – ohne dafür ein entsprechendes Honorar zu erhalten.

Allein die Annahme eines solchen Auftragsumfangs mit einer derartig knappen Lieferfrist wäre grenzwertig – das hier angebotene Honorar wäre ein Schlag ins Gesicht. Nein, tut mir leid, liebe Agentur (es wäre ihre Aufgabe gewesen, dem Kunden die Unverantwortlichkeit seines Anliegens zu vermitteln) und lieber Kunde (wäre er überhaupt bereit gewesen, einen Aufschlag zu zahlen?), für dieses Abenteuer stehe ich nicht zur Verfügung, denn ich bürge mit meinem Namen für die Qualität, die ich liefere und möchte daher auch als das wahrgenommen werden, was ich bin: eine verantwortungsbewusste und erfahrene Fachübersetzerin.

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