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von | 2. Sep 2014

Ich sitze im Auto – als Beifahrer, wohlgemerkt! – und erhalte einen Anruf von einem Kunden: Ob ich in ca. 1 Monat ungefähr 120 km von meinem Wohnsitz entfernt über 3 Tage dolmetschen könnte? Ein französischer Kunde hat bei einem deutschen Anbieter eine Maschine für die Herstellung von Katzenfutter bestellt, und nun steht die Abnahme der Maschine bevor. Es werden einige Vertreter des französischen Kunden nach Deutschland kommen, und der deutsche Anbieter hat niemanden, der Französisch spricht. Und auf Englisch klappt es nicht (klingt so, als habe man es schon versucht…).

Allerdings benötige ich dazu Unterlagen, Dokumente, am besten das Handbuch der Maschine, damit ich mich in das Thema einarbeite.

Hier sei am Rande Folgendes bemerkt: Weder ein Übersetzer (der mehr Zeit hat zum Überlegen, da er „nur“ Texte übersetzt) noch ein Dolmetscher (der innerhalb von Sekunden reagieren muss, da er mündlich dolmetscht) kann aus dem Stehgreif jede Sprachrichtung und jedes Fachgebiet von einer Sprache in die andere übertragen. Es ist in jedem Fall eine Vorbereitung erforderlich, bei Übersetzern sind das häufig Internet-Recherchen, bei Dolmetschern die Vorbereitung anhand von Firmen-Unterlagen.

Die Übersendung der Firmenunterlagen wird mir zugesagt, ich bekomme sie tatsächlich in den nächsten Tagen. Von nun an sehe ich mir jeden Abend einige Seiten der umfangreichen Unterlagen an und lerne die verschiedenen Teile der Maschine auf Deutsch und auf Französisch wie Vokabeln auswendig.

Es ist soweit: Ich fahre zu der Firma und werde von dem Projektleiter empfangen, der mir die näheren Umstände noch weiter erklärt. Er hat auch ein komplettes Handbuch für mich. Netterweise hat er daran gedacht, mich ca. 30 Minuten früher zu bestellen als seine französischen Kunden, um mich noch einmal zu briefen und damit ich das Handbuch ansehen kann. Wirklich fähig der Mann!

Als Erstes kommen 2 Mechaniker, denen die Funktionsweise der Maschine erklärt wird. Ich freue mich, die Maschine bereits „zu kennen“, aber lerne immer noch dazu. Es ist eben etwas ganz Anderes, ob man einen Sachverhalt „auf dem Papier“ lernt oder in der Praxis. Nach ca. einer halben Stunde spüre ich, wie auf beiden Seiten das Vertrauen in meine Arbeit wächst, und das ist wirklich ein tolles Gefühl!

Am nächsten Tag werden weitere Einzelheiten der Maschine sowie das Problem besprochen, dass die beiden Mechaniker in der Stadt gerne eine „Haxe“ essen möchten, aber den deutschen Begriff dafür nicht kennen. Der Projektleiter hilft mit seinen Ortskenntnissen, ich mit meinen Sprachkenntnissen… Es entsteht so etwas wie ein „Kollegengefühl“ – man betrachtet die Kunden (beider Sprachen und beider Nationen) als seine „Kollegen“, als würde man gemeinsam in derselben Firma arbeiten. Es entsteht eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl. Von diesem Phänomen wurde mir auch schon von anderen Dolmetschern berichtet, ich finde es psychologisch sehr interessant.

Am dritten und letzten Tag kommen die Ingenieure, die kaufmännischen Vertreter und der Geschäftsführer der französischen Kundenfirma hinzu. Insgesamt sind es 9 Franzosen, der deutsche Projektleiter, 2 deutsche Ingenieure sowie einige deutsche Mechaniker, die sich unterhalten. Im Konferenzraum sitze ich in der Mitte, damit jeder mich verstehen kann.

Überraschung: Einer der deutschen Ingenieure, der so häufig in den USA unterwegs ist, dass er lieber Englisch spricht als Deutsch (das ist mir auch schon passiert, als ich 1995 aus Frankreich nach Deutschland zurückkam), fragt mich, ob ich auch vom Englischen ins Französische und umgekehrt dolmetschen könnte. Kein Problem! Und es klappt. Die Werksbesichtigung dolmetsche ich Englisch – Französisch – Deutsch. Ein durch und durch spannender Tag!

Im Maschinenraum beschließe ich, mich an die Seite zu stellen und zu warten, bis jemand mich ruft. Die Franzosen möchten die Maschine zunächst einmal nur ansehen und untereinander besprechen, welche Änderungswünsche und / oder Fragen sie haben. Ich denke, es ist die Aufgabe eines Dolmetschers, diskret im Hintergrund zu stehen, auf Abruf bereit zu sein, stets verfügbar, aber nie aufdringlich. Meine Auftraggeber zeigen mir durch kleine Gesten – ein Lächeln, einen kleinen Witz – dass sie das genauso sehen.

Am Abend gehen wir alle in ein Restaurant, und dieses Mal ist die Übersetzung der Speisekarte angesagt, verbunden mit der Erklärung der regionalen Spezialitäten, denn was nützt einem Franzosen die bloße Übersetzung einer Kochweise, die für ihn völlig fremd ist? Ich mobilisiere den Rest der mir noch verbleibenden Stimme (3 Tage lang musste ich gegen die ratternde Maschine anbrüllen!) und erkläre die Sache mit den Pfifferlingen in Sauce oder dem Früchtequark (der in Frankreich weniger bekannt ist).

Danach frage ich mich, warum Dolmetschen nicht zu den körperlichen Arbeiten gezählt wird? Mein Mann holt mich ab, ich habe keine Stimme mehr, habe 3 Tage lang in einer Maschinenhalle gestanden (ich danke dem Kunden heute noch für den Hinweis, ich solle KEINE High-Heels tragen) und weiß eigentlich nicht einmal mehr, wie ich heiße… Aber diese 3 Tage waren einfach nur toll! Ich möchte sie um nichts in der Welt missen, denn seitdem übersetze ich weiterhin den gesamten Schriftverkehr zwischen diesen beiden Geschäftspartnern, sehe angesichts der Namen ein Gesicht vor mir, kenne die Maschine und weiß genau, worum es geht. Genauso muss Übersetzen / Dolmetschen laufen – eine tolle Erfahrung!

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