oder: Die Sekretärin kann das doch auch, oder?
Es ist Freitagnachmittag, ich sitze beim Friseur. Eigentlich sollte ich noch im Büro sein, aber diesen Luxus der freien Zeiteinteilung gönne ich mir als Freiberuflerin. Allerdings liegt das Smartphone vor mir auf dem Tisch und das Festnetz ist auf das Mobiltelefon umgeschaltet. Service ist eben alles…
Und prompt klingelt das Telefon. Eine Sekretärin eines multinationalen Unternehmens, dem Marktführer seiner Branche, fragt mich, was die Übersetzung eines Vertrages von der deutschen in die englische Sprache kosten würde. Sie weiß offenbar nicht, dass ich mit dem Unternehmen einen Rahmenvertrag habe, der meine Honorare eindeutig regelt.
Sei’s drum. Ich antworte, dass die Kosten für eine Übersetzung nach deren Umfang (also Zeilen- oder Wortzahl) berechnet werden, ich aber gerade nicht im Büro bin, sondern beim Friseur. Da es dringend zu sein scheint, erkläre ich ihr die Berechnung der Zeilenzahl und gebe ihr das – mit ihrem Arbeitgeber – vereinbarte Zeilenhonorar an. Sie braucht also nur die ermittelte Zeilenzahl mit dem vereinbarten Zeilenhonorar zu multiplizieren, um mein Gesamthonorar ungefähr zu ermitteln (je nach Sprachenpaar wird der Zieltext, also die Übersetzung, jeweils länger oder kürzer. Vom Deutschen ins Englische sollte der Zieltext eigentlich kürzer werden, aber bei Rechtstexten ist das anders. Doch dazu komme ich gleich).
Sie rechnet – und schluckt: „Ja, aber das sind ja…“ Ja, „das sind ja“, und „das innerhalb eines halben Tages“, um den Satz der Sekretärin fortzusetzen, den sie nicht ohne Vorwurf als Antwort auf meinen Vorschlag äußerte, die „brandeilige“ Übersetzung nach meinem Friseurbesuch am Freitagabend / Samstagmorgen einzuschieben. „Na, also dann …. mache ich das lieber selbst … Wenn Sie gerade beim Friseur sind … Und das sooo viel kostet …. Und die Übersetzung so eilig ist …“
Aber sicher doch! Den Faktor „Neid“ einmal ausgenommen (bei einem Telefongespräch ist der Tonfall des Gesprächspartners häufig sehr aussagekräftig…), fassen wir doch einmal zusammen:
Die Übersetzung von ca. 5 Normseiten (jeweils 30 Zeilen à 55 Anschläge mit Leerzeichen – oh ja, auch die Abstände zwischen den Wörtern werden gezählt, das ist nun einmal so!) dauert, wenn der Übersetzer erfahren, flink (fingerfertig) und tapfer ist, einen halben Tag. Er reiht nämlich nicht nur Wörter aneinander, die er aus verschiedenen Wörterbüchern herausgefischt hat, sondern liest sich den Text zumindest teilweise durch, versteht Zusammenhänge und übersetzt dann Satz für Satz, grammatikalisch und orthographisch korrekt. Nach vollbrachter Tat wird kritisch Korrektur gelesen und die Verbesserungen werden eingepflegt. So weit, so gut. Das kann die Sekretärin zur Not auch, oder?
Abgesehen davon, dass obiger Prozess (vorheriger Absatz) ein Übersetzungsstudium von 4 bis 5 Jahren erfordert (wobei der Beruf nicht geschützt ist…) – handelt es sich hier um einen Rechtstext.
Will heißen: Ein deutscher Rechtsanwalt hat für das Unternehmen einen Vertrag nach deutschem Recht erarbeitet. Dabei hatte er die Interessen seines Mandanten im Auge, denn dafür wird er bezahlt (dessen Honorarsätze kenne ich im Übrigen, denn auch er hat einen Rahmenvertrag mit diesem Unternehmen).
Nachdem diesem Rechtsanwalt – völlig zu Recht – genügend Zeit eingeräumt wurde, um einen Vertrag zu erarbeiten, der das Unternehmen bindet, wird nun in letzter Minute eine Übersetzung für diesen Vertrag gesucht, wobei auch diese Übersetzung das Unternehmen bindet… Das – per Rahmenvertrag vereinbarte – Honorar der Übersetzerin spielt dabei keine Rolle mehr, denn die Sekretärin kann das doch auch, oder…?
Ein in deutscher Sprache nach deutschem Recht abgefasster Vertrag – lässt sich nicht ohne Kenntnisse des deutschen und des angelsächsischen Rechts übersetzen, denn die beiden Rechtssysteme sind unterschiedlich. Im angelsächsischen Rechtsbereich gilt das „Common Law“, in Deutschland je nach Sachlage das Handelsrecht oder das Bürgerliche Gesetzbuch.
Daraus ergeben sich in der englischen Übersetzung eine akribisch genaue Ausdrucksweise, die auf den deutschen Leser wie umständliche Formulierungen und Wiederholungen wirkt, ebenso wie einige Fußnoten als Erklärung für den englischsprachigen Leser, dem das deutsche Rechtssystem zwangsläufig fremd sein muss (andernfalls würde er keine Übersetzung benötigen…). Sprich: Die englische Übersetzung wird in diesem Falle länger (s. o.), da sie für das Verständnis notwendige Erläuterungen enthält.
Diese Erläuterungen und diese „umständlichen Formulierungen“ – lernt der Übersetzer erst nach seiner Ausbildung der obigen Fertigkeiten (s. o.), denn es handelt sich hierbei um eine Spezialisierung, die einigen Aufwand und Fortbildungen beinhaltet.
Kommen wir zurück auf die Sekretärin des Unternehmens – von der ich weiß, dass sie keine Fremdsprachensekretärin ist, sondern über Schulenglischkenntnisse verfügt… Was geschieht, wenn der für das Unternehmen verbindliche Vertrag – fehlerhaft übersetzt wurde? Der Übersetzer verfügt über eine Berufshaftpflichtversicherung – die angestellte Sekretärin ist als Nicht-Führungskraft aus der Haftung entbunden. Den Schaden trägt jedoch das Unternehmen, und zwar den materiellen und den immateriellen.
Frage meinerseits: Wie teuer wurde die von einem Laien angefertigte Übersetzung im Endeffekt für das Unternehmen…?